Samstag, 2. Oktober 2010

Lauschen auf das Rauschen

Herzdurchblick
Der Counter steht bei nine-one-one. Ich bin auf dem Sprung von den Bergen bis ans Meer und nachdenklich geworden. Woran erkennt man ein echtes Gefühl? Mir kam in den letzten anderthalb Jahren einiges unter, das sich gut oder wenigstens mittelgut angefühlt hat, aber in Zeit und Nähe taugte nichts davon. So habe ich begonnen, mir selbst gegenüber misstrauisch zu werden und vielleicht auch Spielchen zu spielen. Ich habe viel zu oft Platzangst bekommen und mich in die Idee der Freiheit verknallt. Ich habe dabei nur leider übersehen, dass sie so leer und ausgehöhlt, wie ich sie manchmal verstanden habe, gar keinen Wert besitzt. Freiheit bedeutet nicht nur gegen etwas zu sein, ist nicht nur Freiheit von, ist nicht nur reine Anti-Haltung: Anti-Beziehung, Anti-Gebundenheit, Anti-Verbindlichkeit, Anti-Verantwortung, Anti-Einschränkung. Freiheit ist ihrem Wesen gemäß positiv bestimmt, sie ist Freiheit zu. Intellektuell hatte ich das bereits an anderer Stelle erwogen und betastet, aber emotional schien die positive Freiheit nicht bei mir angekommen zu sein. Aber allmählich spüre ich sie. Ich habe endlich alten Balast abgeworfen, ein Kreuzfahrtschiff aus Papier mit einem Mann über Bord. Sie legt sich wie Seewind auf meine Haut. Sie verwandelt das ewige Anti in wahre Unabhängigkeit, aufrichtige Gelassenheit, Glück im Alleinsein und Zufriedenheit mit mir selbst. Das ist wohl das, was Kitti einst meinte, als sie zu mir sagte, man bekomme erst ein Profil, wenn man eine Weile mit sich alleine gewesen sei und nur mit Profil verliebten sich die Menschen in einen als Menschen.

Ick bin ja ooch mit mir hier singt Icke von Icke&Er.

Und das echte Gefühl? Ganz selten habe ich es leise Klicken gehört. Ich will lieber keine Zahl nennen. Wegen des profunden Misstrauens mir selbst gegenüber habe ich immer versucht, es zu ignorieren, bis es dann irgendwann aus mir hervorbrach, meistens in Briefen, manchmal in Blicken. Für's Vergessen sind große Anstrengungen nötig. 

Ein leises Klicken? Die Liebe überfällt uns ab einem bestimmten Alter, mit einer bestimmten Abgeklärtheit und mit einem gewissen Maß an Erfahrung nicht mehr mit der Wucht einer Blaskapelle, wie es bei der großen Jugendliebe der Fall war. Die haben wir übrigens alle mit der großen Liebe an sich verwechselt und außerdem haben wir ihr viel zu lange nachgetrauert. Stattdessen ist es dieses leise Klicken, für das es  eine gewisse Vertrautheit braucht, das dann aber etwas sehr Plötzliches an sich hat, das alles mit einem Mal ganz einfach werden, das uns die Welt mit neuen Augen und mit der Aussicht auf andere Ufer sehen lässt.

Aber treten wir einen Schritt zurück von meiner Mikro-Frosch-Perspektive und lassen wir andere moderne Wortverdichter etwas über die Liebe sagen. Geliebte und verfluchte Metaebene…
Funny van Dannen singt:
Die Liebe ist ein Schmetterling auf der Autobahn,
sie macht die Augen zu und das Fernlicht an.

Dota Kehr singt:
Die Liebe ist ein kleines Tier,
vielleicht läuft es eines Tages fort.
Man fragt im Tierheim:
"Ham Sie noch so eins?"
Und dann ist keins dort.

Manchmal ist die Liebe für sie auch: …drei Worte im Sinn.

Die Ohrbooten singen: 
Denn es gibt so viele Gefühle für Liebe,
wenn ick dit Leben mit dir spiele, spüre ick Familie.
Da sind so viele gemeinsame Ziele
und deine sweete Brise gibt mir diese Perspektive.
Einige wählen aus Feigheit die Freiheit, anderen fehlt zur Freiheit der Mut. Freiheit ist aber nur dann Unabhängigkeit, wenn man in sich und nicht im anderen nach sich selbst sucht. Wenn du mich liebst, bleib bei dir singt Tom Liwa. Wir werden ohnehin nie fertig, wir finden keine große, letzte Antwort, wir sind immer auf der Suche. Wir müssen beginnen, die Fragen selbst liebzuhaben, so wie Rilke es fordert.

Aber kehren wir von der Freiheit zur Ausgangsfrage zurück: 
Woran erkennt man ein echtes Gefühl? 
Eine vage, kleine, flüchtige Antwort darauf ist neulich kurz in mir aufgeflackert. Es ist  ein echtes Gefühl, wenn zwei ehrliche Sätze einem in einem Wust von Worten sofort die Tränen in die Augen schießen lassen – das erste Mal seit langem. Es ist ein echtes Gefühl, wenn sich die Wahl hartnäckig jeder Logik, allen guten Argumenten und allen gemachten Erfahrungen widersetzt. Es ist ein echtes Gefühl, wenn man den einen Menschen nicht trotz sondern gerade wegen der Eigenschaften mag, von denen man weiß, dass man sie eigentlich nicht ausstehen kann. Es ist ein echtes Gefühl, wenn es auch die Verdrängungsanstrengungen überlebt und nicht so schnell vorbei ist, wie man ein Ein-Mann-Zelt abbauen kann. Ich hatte wirklich geglaubt, dass Schweigen heilsam sein kann, wenn man bei sich selbst klar Schiff gemacht hat. Aber die nicht gelebte Liebe lässt sich nicht wegschweigen, nicht vergessen, nicht verdrängen. Sie blitzt hier und da in kleinen Sequenzen wieder auf, reißt ein Loch in den Schleier des Schweigens, reißt ein Loch in die Freiheit und wirft uns ganz und gar aus der Bahn. Die Gedanken an die nicht gelebte Liebe begleiteten uns ein Leben lang. So lang ist meines noch nicht, aber ich bin mir das eine Mal ganz sicher, mit dieser Erkenntnis der Wahrheit sehr, sehr nahe zu sein.

So weit die auf mich eingestürzte Antwort. Ob ich sie bereits leben kann ist eine andere Frage. Platzangst, Neugier und Rastlosigkeit sind mir nach wie vor treue, sind mir mehr und weniger lieber Begleiter. Dennoch noch eine Nachfrage: Man gibt sich so große Mühe, genau in sich hineinzuhorchen und teilt dem Gegenüber das Erlauschte mit großer Ehrlichkeit mit. Bei all der Mühe, die diese Ehrlichkeit zu kosten scheint, vergisst man manchmal, die erspürten, in sich selbst vorgefundenen Positionen zu hinterfragen. Ab einem gewissen Alter will man die Grundpfeiler seiner gewählten Lebensform nicht mehr hinterfragen. Aber ich fürchte um den Moment, wenn das Leben fast vorbei ist. Nur die nicht getanen Dinge, werden wir bereuen. Was hingegen getan wurde, mag es uns Schmerzen oder bittere Erfahrung gekostet haben, uns schöne Augenblicke oder wertvolle Mensch geschenkt haben, ist gelebtes Leben. Denn daraus besteht das Leben. Mit dem Nichts und dem Mangel ist es eine schwierige Kiste. Dieses Nachdenken über Liebe ist nicht der richtige Ort dafür.

Mit Brecht hat es begonnen. Wäre nicht Brecht gewesen, wäre vielleicht nichts geschehen. Brecht hatte mich am Haken. Darum will ich es mit Brecht enden lassen. Vielleicht auch nur für heute. Vorweg muss ich aber sagen, dass es nur ein Pseudo-Brecht ist. Diese Zitat wird ihm fälschlicherweise zugeschrieben, aber das ist egal. Hätte er es gesagt, hätte er es gewiss auch vorrangig politisch und weniger lebensweltlich gemeint. Nu is' er aber tot und een Deutschlehrer is' ooch nich' anwesend, also lesen wa ihn wie wa wolln! sacht die Berliner Jöre in  mir, schließt trotzig mit den Worten…

"Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren."

…und für heute die Augen, denn der Appell ist viel mehr an sie selbst gerichtet als an irgendwen da draußen und mit geschlossenen Augen lässt es sich einfach besser in sich hinein lauschen auf das Rauschen, das die Meeresstille des Seele macht, wenn man wahrhaft frei und glücklich ist.





Ein Nachsatz, inspiriert von girlrunningwild. [2010-10-03 15:55]

Lassen wir noch Sartre zu Wort kommen.
„Er [der Liebende] will von einer Freiheit geliebt werden und verlangt, daß diese Freiheit als Freiheit nicht mehr frei sei, […] daß diese Freiheit durch sich selbst gefangengenommen wird, daß sie sich, wie im Wahn, wie im Traum auf sich selbst zurückwendet und  ihre eigene Gefangenschaft will. Und diese Gefangenschaft soll freie und zugleich an unsere Hände gekettete Abdankung sein.“
[Das Sein und das Nichts 435]
Es ist ein echtes Gefühl, wenn man sich freiwillig, ja sogar gerne um die eigene Freiheit berauben lässt. Wenn wir mit Sartre auch wissen, dass der Versuch, Einheit zu erreichen, zum Scheitern verurteilt ist... Das Versuchen, das Anfangen, das Scheitern, das Aufrappeln, das Wollen und Sehnen und Verschenken – daraus, daraus, daraus ist es – süßes, goldenes, raues, frostiges, überladenes, vergeudetes, gebrauchtes, geliebtes, gelebtes Leben.

2 Kommentare:

  1. liebe paula. ich sitz im schönsten sonnenschein hier, hab so viele gedanken zu deinem mich sprachlosen machenden worten und bring doch kein einziges treffendes wort zu papier.
    man ist so lange einsam, bis man lernt allein zu sein, singt olli schulz. wer das kann, erkennt ein echtes gefühl wohl daran, dass einem platz an unserer freiheit genommen wird, wenn jemand in unser leben tritt. um herzrasen dann als platzangst oder echtes gefühl zu identifizieren, muss man auch erstmal in sich hineinlauschen. und ist es hinterher leichter seine liebgewonnene freiheit als fluchttür zu benutzen, als gefühle, die kompromisse und einschränkungen mit sich bringen, zuzulassen?

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  2. Manchmal kommt das Feedback aus einer anderen Ecke, als man es erwartet hat. Umso schöner, so liebe, sonnenscheinwarme Worte von Dir geschenkt zu bekommen, ich danke Dir – auch für die inspirierenden Gespräche im Vorhinein. Ein Trost im Dickicht. Freundinnen müsste man sein, singt Funny van Dannen und dachte ich neulich beim Nach-Hause-Gehen.

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