Mittwoch, 10. März 2010

Sprache und Identität

Ich habe eine Tante in Finnland, sie ist vor π mal Daumen zwanzig Jahren aus der DDR ausgewandert und über Umwege in Finnland gelandet. Mittlerweile ist sie finnische Staatsbürgerin. Sie spricht perfekt Finnisch. Wenn man einem Proseminar der Uni Münster Glauben schenken darf, dann handelt es sich dabei immerhin um eine der schwersten Sprachen der Welt. Síe spricht also perfekt Finnisch. Sie spricht mittlerweile leider etwas holperiges Deutsch. Wenn sie eine Weile bei uns in Berlin auf Besuch ist, wird ihr Deutsch besser, aber ihre E-Mails sind manchmal abenteuerlich, wenn auch immer sehr schön. Kann man seine eigene Muttersprache verlernen? Meine Vermutung war immer gewesen, dass ihr "Muttersprachverlust" etwas mit der gänzlich nicht-indoeurpäischen Grammatik des Finnischen zu tun hat. Aber Sebastian hat mich auf eine bessere Idee gebracht. Meine Tante ist sehr finnland-patriotisch. Sie hat ihre deutsche Identität gänzlich abgelegt und eine finnische Identität angenommen. Sebastian erklärte mir, dass das der Grund für ihre perfekte Beherrschung des schwierigen Finnischen und für ihr holpriges Deutsch sein könnte. Und er erklärte mir auch, dass meine Vermutung zumindest nicht ganz falsch sei, weil gewisse grammatische Muster der (ich nenne es mal) "Identitätssprache" mit den grammatischen Strukturen anderer erlernter Sprachen interferieren. Das kann man sich etwas vereinfacht so ähnlich vorstellen wie bei Sprechern des Deutschen, die Englisch radebrechen und bei der Bestellung im Restaurant sagen: "I become a schnitzel, please!" Dabei soll man doch verdammt noch mal vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht. Jedenfalls eine ziemlich lustige Vorstellung. Ich finde leider kein passendes Bild, kann jemand weiterhelfen? Um aber zum Thema zurückzukommen und das Label zu rechtfertigen, das alles wäre eine interessante Arbeit, die ich leider nicht schreiben können werde. Vielleicht gibt es dazu ja auch schon Forschungen, aber vermutlich nicht - so sehr wie der Idiolekt als Forschungsgegenstand bisher ausgeklammert wurde. Und sicher ließen sich zum Thema "Identität und Sprache" noch viele andere Beispiele, beziehungsweise interessante Interviewpartner finden...

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p.s.: Meine liebe Tante in Finnland, die Du sicher mitliest: Ich hoffe, Du bist mir nicht böse, dass ich Dich hier als linguistischen Untersuchungsgegenstand analysiere. Natürlich bist Du für mich in erster Linie eine wundervolle Frau und trotz der Entfernung eine mir sehr nahe stehende Person, die ich wahnsinnig lieb habe!

3 Kommentare:

  1. Oh nein, jetzt auch noch was mit "schwierigen" und "leichten" Sprachen - kommt halt immer darauf an, mit was man aufwächst. Und dann ist das Seminar auch noch von Jan Wohlgemuth; das hat er bestimmt bloß so provozierend in den Titel geschrieben, aber es eigentlich nicht so gemeint. Denn eigentlich geht es in dem Kurs ja relativ klassisch um die Strukturen nicht-indoeuropäischer Sprachen. Ergo: Es gibt sicherlich komplexere Strukturen in manchen Sprachen als in anderen, aber das muss nicht unbedongt was mit "Schwierigkeit" zu tun haben (ich bin aber gerade dabei mir darüber eine Meinung zu bilden, bin mir da also nicht ganz so sicher); besonders schwierig empfinden es wahrscheinlich sowieso meistens die Europäer mit ihren doch ziemlich seltsamen Sprachen (dazu empfehle ich UNBEDINGT: Cysouw, Michael. 2006+. Quantitative explorations of the world-wide distribution of rare characteristics, or: the exceptionality of north-western European languages. in: Horst Simon & Heike Wiese (eds.) Exception in Language. Berlin: Mouton de Gruyter. [http://email.eva.mpg.de/~cysouw/pdf/cysouwDGFS2005.pdf] - da wird gezeigt, dass Westgermanisch die exotischste genealogische Einheit der Welt ist).

    Jetzt habe ich schon wieder so viel rumgenörgelt. Aber trotzdem schön, ich verspreche auch beim nächsten Mal nicht so viel klugzuscheißen. Bitte weiter.

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  2. Doch! Bitte, bitte weiterklugscheißen!! Ist ja konstruktive Kritik und ich lese Deine Kommentare mit Vergnügen und lerne was dazu. Den Literaturtipp werde ich gleich an eine prominentere Stelle im Blog verschieben. Merci vielmols!

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  3. Ein interessantes Thema. Ich habe mich erst heute eine Stunde lang mit einer Freundin darüber unterhalten. Wir sind zu dem gleichen Fazit gekommen: das Erlernen einer Sprache hängt ganz stark von der eigenen Identität ab. Ich habe mich z.B. immer gewundert, dass mein Bruder, der nur ein Jahr jünger ist, sehr viel schlechteres Bulgarisch spricht als ich. Obwohl ich ein sehr kommunikativer Typ bin und er wie gesagt jünger ist, lassen sich die sprachlichen Unterschiede nicht erklären. Vor einigen Jahren ging mir dann ein Licht auf. Mein Bruder war wahrscheinlich noch nie so sehr mit Bulgarien verwurzelt. Irgendwie auch klar: er hatte seitdem er denken konnte deutsche Freunde, liebte deutsches Essen, hörte deutsche Musik u.s.w. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper als er, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, die Bulgarische ablegen musste. Ich hätte das nicht gekonnt. Für mich war Bulgarien immer ein wichtiger Teil meines Lebens.

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