Montag, 18. Oktober 2010

Reinfall, sehenden Auges

Punk is not dead!
Bionade-Biedermeier nannte die Zeit einst die spießige Kinder-Krieger-Brigade aus dem Prenzlauer Berg. Aber wie kommt das eigentlich, dass die, die in ihren 20ern so hipp gewesen sind, Tocotronic gehört und auch sonst den Anti-Mainstream, die absolute Selbstverwirklichungsfreiheit und die flächendeckende Unangepasstheit gefeiert haben, plötzlich verholzen und sich in die engen Lebensmodelle ihrer Eltern und Großeltern quetschen? 

Dann bleiben Frauen, die jahrelang studiert haben, jahrelang mit ihren Säuglingen zu Hause - unter dem fadenscheinigen Schutz des Satzes: "Ich will doch mein Kind aufwachsen sehen". Statt sich ihres geschärften Verstandes zu bedienen, wie Kant es ihnen im beliebtesten aller Magisternebenfächer beigebracht hat, brabbeln sie nur noch baby talk. Im besten Fall fühlen sie wenigstens, dass da irgendetwas nicht stimmt, spüren die eigene Unterfordertheit und machen sie als Ursache für ihr allmähliches Unglücklichwerden aus. In den meisten Fällen stumpfen sie aber gegen das eigene Unwohlsein ab und nennen die übriggebliebene Fadheit einfach Glück. Problem gelöst. Ein attraktiver, interessanter und eigenständiger Mensch bleibt man dadurch  nicht...

Wer das Kind nicht aufwachsen sieht, ist der Vater, weil er sich in einem halbherzig ergriffenen Beruf von morgens bis abends abrackert, um die junge Familie zu ernähren. Die klassische Rollenverteilung. Ziemlich unfair für beide Seiten! Aus dem hip von einst ist Hipp von Claus geworden. Individualität ist nur noch zur Schau getragenes Öko-Klamotten-Gehabe, stimmt aber hinten und vorne nicht und wird nicht mehr gefühlt. Alles ist nur noch ein schlechtes Relikt von fadenscheiniger Rebellion. Die Chucks dürfen bleiben, der Schnauzer, der mal für kurze Zeit als Anti-Anti fungiert hat, muss ab.
Anti Anti

Warum wird aus Kindern so ein großer Buisnessplan gemacht? Statt sie einfach groß werden zu lassen, die Zeit mit ihnen qualitativ und nicht quantitativ auszumessen, werden sie rund um die Uhr kritisch beäugt, diskutiert, observiert. Bionade-Stasi. Die Aufmerksamkeit wird zum Ersatz für das eigene Leben zwischen 20 und 30, das man aufgeben zu müssen meinte, um den durchorganisierten Lebensplan umsetzen zu können. Dabei würde einem bei genauerem Hinsehen klar, dass dieses Modell gar nicht mehr in unsere Zeit passt, es passt eigentlich in keine Zeit: "Karriere, dicke Kohle, Riesen-Altbauwohnung oder Haus im Ländlichen, mit 40 Kinder als Sahnehäubchen." Ich habe eine repräsentative Umfrage unter 3-Jährigen durchgeführt und herausgefunden: Kinder kratzt es nicht, ob sie etwas besitzen oder nicht. Sie legen wert auf Zeit und Liebe... Die geschiedene Elterngeneration, die sich meist erst in der zweiten, langen Beziehung ihres Lebens genügend Abstand und Freiraum für eigene Idee gönnt, zeigt doch, dass es sowieso auf Patchwork hinausläuft, wenn man sich zu sehr zurechtzubiegen versucht.

Das ist alles sehr polemisch? Gern geschehen! Immerhin haben wir inzwischen unendlich viel Zeit, um herauszufinden, welches Leben wir leben wollen. Während unsere Großmütter mit 17 schwanger und mit 18 verheiratet waren, weil über "diese Dinge" nicht gesprochen und nachgedacht wurde, haben wir – diese wohl behütete Generation – beschlossen, unsere Jugend um 10 Jahre zu verlängern, uns unserer Freiheit, dem Ausprobieren von Gefühlen, dem Reisen, der bedingungslosen Selbstfindung hinzugeben. Aber anstatt die Zeit zwischen 20 und 30 zu nutzen, um die Muster, die Modelle, die Ansichten, die wir im Schädel herumtragen und die da irgendwie, ohne dass wir genau wissen wie, hineingeraten sind, in Frage zu stellen, zu verwerfen, zu modifizieren, an unsere Erfahrungen anzupassen, vertrödeln wir unsere Zeit, hüten uns vor dem Erwachsenwerden, feiern eine einzige ausgiebige Party und fallen dann in all das Hinterfragte rein.
Reinfall, sehenden Auges.

Die zahllosen Veranstaltungen zu Gender-Themen sind gut besucht und werden anschließend bei einem trockenen Rotwein diskutiert. Aber für das eigene Leben ziehen wir keine Konsequenzen daraus. Der wirre Kopf ist voller wirrer Ideen für Projekte, die uns vielleicht über Jahre befriedigen und glücklich machen könnten, aber zum Schluss ist es doch der Traum von komfortablem Konsum, der den Idealismus verdrängt und uns einen langweiligen Job machen lässt. Das Eingehen von Verpflichtungen, das Kinderkriegen, das Eigentumanhäufen bedeutet für viele eine freiwillige Einschränkung ihrer Freiheit, die sie nur scheinbar satt und zufrieden macht. Die Seele will liebkost, der Geist herausgefordert, das Denken überschritten werden. Yoga und Dr. Kawashima sind nicht die Antwort auf alle Fragen. Ist nicht beides lebbar? Freiraum und Verantwortung? Einen Platz im Leben finden und weiterhin Grenzen überschreiten? Ich fänd's komisch, wenn's nicht so wäre, denn logisch schließt sich das keineswegs aus.

Warum versprechen wir uns Dinge, die wir dann nicht halten können? Ewige Treue, Hingabe, Liebe... Ein ganzes Leben lang, sozusagen eine Flatrate. Wieso backen wir nicht kleinere Brötchen und versprechen uns nur das, was möglich ist? Ein Freund von mir hat mit seiner Freundin folgenden schönen Weg gefunden: Sie führen eine Fernbeziehung und verlängern bei jeder Verabschiedung ihre Beziehung um einen weiteren Monat. Sie versprechen sich nicht mehr als sie können und dennoch so viel wie nötig ist.

Eigentlich müsste man froh sein über diejenigen, die sich weigern, halbherzige Beziehungen zu führen. Sie sind über die 30, aber nicht über die Spätpubertät hinausgekommen vor lauter Bauchnabelbeguckung. Der hinübergerettete Hedonismus wirkt ohne den jugendlichen Idealismus leider ziemlich flach und kindisch. Beziehungsunfähigkeit und Misanthropie werden als Gründe für die Verweigerung von commitments angegeben. Selten liegen diese Dinge wirklich vor oder sind pathologisch. Unverbindlichkeit als Lebensprinzip. Eigentlich müsste man froh sein über diejenigen. Schließlich tun sie nichts, als ab und an einem Menschen mit Bindungsabsichten das Herz zu brechen. Aber darüber kommt man hinweg. Immerhin bleiben sie bei sich! Angst, Leere und inneres Schweigen sind der Preis für den höchsten Grad von Unabhängigkeit. So radikal möchte ich es nicht angehen lassen.
gesehen in der Lonely-Wolf-Sackgasse

Ich plädiere mit Aristoteles für eine Mitte zwischen den Extremen. Kein symbiotischer Pärchen-Quatsch, keine Lonely-Wolf-Nummer. Ziehen wir doch verschiedene Lebensmodelle in Betracht! Und wenn das heißt, dass man irgendwann aus steuerlichen Gründen die beste Freundin heiratet, mit der man zusammenlebt, weil das besser klappt als mit einem Mann, warum eigentlich nicht? Und wenn das heißt, dass man zwei verschiedene Wohnungen hat, weil man Zeit und Raum für sich braucht, warum nicht auch das? Und wenn das heißt, dass man auch mal allein in den Urlaub fährt, warum nicht? Und wenn das bedeutet, dass mal voneinander weg und mal zueinander hin findet, so what? Wie gesagt, es kann das eigene Profil nur schärfen, wenn man auch als Mutter/Vater bzw. Ehefrau/Ehemann bzw. Freundin/Freund ein eigenes Leben führt, seine Interessen und Ideen entwickelt, sich Ziele setzt und sie verfolgt. Keiner wird einen Zombie lieben!

Und Liebe ist kein eindimensionales Gefühl. Wer immer nur romantische Komödien guckt, bekommt diesen Eindruck. Das Leben verläuft nicht in geraden Bahnen sondern besteht aus Weggabelungen, Abkürzungen und Umwegen. Gefühle finden in einem Kontinuum statt, können schwanken, stärker und schwächer werden. Um die Ecke denken lohnt sich. In sich hineinhören ist dringend geraten.

Habe ich einen zu nüchternen Blick auf die Kinderfrage? Eine zu pragmatische Herangehensweise an die Liebe? Bin ich dem werten Leser zu naseweis und unerfahren? Argwöhnt er sogar, dass ich nur aus Frust so gegen glückliches Familien-Gründen und Pärchen-Spielen polemisiere, weil ich selbst (nun schaut er etwas mitleidig) "allein durchs Leben gehen muss"? Once again: Bitte, gern geschehen! Mit kratzbürstiger Rage mache ich mich gerne unbeliebt, wenn dafür der ein oder andere sein Bionade-Biedermeiertum überdenkt. Vielleicht wollen Kinder nüchterne, liebevolle Konsequenz! Vielleicht braucht es Pragmatik, um eine lange, schöne Beziehung zu bestreiten! Vielleicht denke ich in ein paar Jahren ganz anders über alles! Vielleicht würde ich einen solchen Text nicht schreiben können, wenn ich mich in der geistigen Faulheit einer Beziehung befände. Aber das spricht weder gegen mich noch gegen meinen Text. Der werte Leser weiß, wogegen das spricht.

Ich will dennoch versöhnlich enden. Mit einem Liebesgedicht. Einem der schönsten. Natürlich von Rilke. 
Liebeslied

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt,wenn deineTiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
Es beschreibt bei genauerem Hinsehen sehr exakt, woher Liebe kommt. Wir lieben den anderen in seiner Eigenständigkeit, seiner Einzigartigkeit, seiner planetengleichen Strahlungskraft. Wir lieben ihn deswegen am Anfang  auch so sehr, dass es manchmal fast schmerzt. Weil er zu diesem Zeitpunkt so allein und eigenständig und schön strahlt. Weil er so sehr Mensch ist. Bewahren wir uns das eigene Strahlen – für uns selbst und für den geliebten Menschen!  Dann kann eigentlich gar nichts mehr schief gehen...


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Ich danke Markus, Pia, Marco, Anne, Sarah, Ruth, Christoph, Steffi und Uli für die anregenden Hinweise und Gespräche, die diesen Blogbeitrag in mir haben gähren und reifen lassen.

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