Sonntag, 5. September 2010

Ein verschwiegenes Organ oder Bewusstseinsstrom, 5 Uhr früh

Die Hände unterm Kopf gefaltet höre ich meinem eigenen Herzen beim Schlagen zu und warte auf den mich übermannenden Schlaf. Statt zu schlafen sinne ich dem Wort übermannen nach. Allzu genau sollte ich ihm nicht hinterherrennen, dem Wort, das weiß ich, sonst ist an Schlaf noch weniger zu denken. Allzu genau sollte man eigentlich überhaupt nicht immer hinspüren, hindenken, denke ich noch und fühle mich ganz müde. Immer noch lausche ich meinem Herzen und wünsche mir, man könnte ihm tatsächlich zuhören, es befragen und eine Antwort in Worten und nicht nur in Ahnungen erhalten. Obwohl es ein so deutliches Geräusch beim Arbeiten macht, ist es doch ein recht verschwiegenes Organ, denke ich. Von der Milz oder der Bauchspeicheldrüse hört man auch nichts, aber da erwartet man es auch nicht. Was hätte ich meiner Bauchspeicheldrüse schon zu sagen? Außer vielleicht "Geh bitte nicht kaputt. Gib den Geist nicht auf!" Nun hänge ich der Formulierung den Geist aufgeben nach und wundere mich, woher sie kommen mag. Wir verwenden sie doch eher für Dinge, aber Dinge haben keinen Geist. Keiner würde sagen "Meine Oma hat den Geist aufgegeben.", obwohl das viel eher stimmen könnte, als dass ein Toaster den Geist aufgibt. Aber das würden wir einfach nicht sagen. Stattdessen suchen wir höflichere Umschreibungen wie "Oma ist nicht mehr ganz da." Dabei hört sich das viel mehr danach an, als wäre Oma ein Ding. Man kann doch nicht nur halb existieren. Wie sieht so eine halbe Existenz aus? Als wäre Oma, am Maßstab der Menschheit gemessen, kaputt. Was macht es also aus, ein Mensch zu sein? Einen klaren Geist zu haben? Gefühle zu haben? Gefühle hat Oma sicher, denn sie weint oft und erzählt viel von früher. Sind die komischen Hirnforscher also doch parteiisch und eher am Denken interessiert als an dem, was wir früher mal Seele genannt haben und heute abgespeckt nur noch Emotionen nennen? Ich nenne es immer noch Seele. Auch wenn ich schief angeguckt werde dafür. Ich verdichte die Welt, ich darf noch Seele sagen, das ist ein geschützter Begriff! Ich höre dem gleichmäßigen Geräusch meines Stiftes zu, das er auf dem Papier macht. Es klingt ein bisschen wie Meeresrauschen. Gleichmäßig und gekräuselt wie ein ruhiges Meer sieht auch meine Schrift aus. Der Hals tut mir ein bisschen weh und ich weiß nicht mal, bei wem ich mich angesteckt habe. Eigentlich blödsinnig überhaupt danach zu fragen. Was spielt das für eine Rolle? Wollte ich mich darüber beschweren, angesteckt worden zu sein, ich könnte es bei jedem, der hustet, tun. Aber wofür? Um ein schlechtes Gewissen zu provozieren. Davon hat aber auch keiner was. Wie merkwürdig Menschen ticken, dass sie gerne anderen Menschen ein schlechtes Gewissen machen. Was für ein wichtiges Gefühl dieses "schlechte Gewissen" ist und doch ist es in der Aufzählung der Basisemotionen nicht enthalten und nie habe ich im Philosophiestudium jemanden davon reden hören. "Hätteste besser Psycho studiert!" ruft mir eine Stimme aus dem Off zu. Aber ich dachte, Philosophen untersuchten die Struktur der Welt. Gehört nicht ein Gefühl wie das schlechte Gewissen ebenso zur Welt wie das heiß umkämpfte Gefühl der Freiheit? Andererseits hat sicher irgendwann einmal irgendein amerikanischer Philosoph irgendeinen kleinen Aufsatz über das schlechte Gewissen geschrieben. Ich weiß nur nichts davon. Überhaupt weiß ich noch immer zu wenig, fast nichts. Könnte ja meine Magisterarbeit darüber schreiben, über das schlechte Gewissen! Darüber muss ich jetzt lachen. Der übermannende Schlaf ist ziemlich weit weg. Ich hole mir was zu trinken. Das kalte Wasser kühlt die kratzende Kehle. Ich lege mich ins Bett, stütze den Kopf in die Hand und höre wieder mein Herz. Ein verschwiegenes Organ eigentlich, denke ich und merke, dass ich am Ende angekommen bin.

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